Die Schönheit des Geheimnisses.
Eine Affinität zur skulpturalen Arbeit hat Günter Reichenbach schon in der Zeit entwickelt, als er noch ausschließlich malte. Bereits in den späten 70er Jahren, noch während seines Studiums an der Karlsruher Kunstakademie bei Markus Lüpertz, entsteht ein Bild, das schon vieles von dem enthält, was sein späteres Schaffen kennzeichnet: Ein großformatiges, kraftvolles Gemälde, das eine Unzahl bunter, runder Steine vor einem neutralen Hintergrund zeigt. Das hätte eine schwerfällig- banale Angelegenheit werden können. Nicht so bei Günter Reichenbach. Der malt seine Steine so energisch plastisch, dass sie ganz so aussehen, als würden sie im nächsten Moment in den Raum hineinfliegen und gleichzeitig so farbig, fröhlich und entspannt, dass sie ihre realen, erdschweren Eigenschaften völlig verlieren und zu schweben beginnen, obwohl sie doch eigentlich fallen müssten.
Es dauert aber noch eine ganze Weile, bis diese Bildformen zu Objekten werden dürfen. In der Zwischenzeit erschafft er sich mit dem Pinsel weiter seine 3‑D-Welten, lässt in einer Bildseie einen” kleinen Chemiker” durch die Welt “reisen“und dabei Dinge entdecken, die an alles und nichts erinnern (können): Molluskenteile und kugelartige Gebilde tauchen auf dieser Bilder-Weltreise auf. 1987 malt er dann ein Füllhorn und schüttet alles aus, was er bisher gesammelt hat: “Beliebte Formen, beleibte Formen, beliebige Formen, beleidigte Formen”.
Und dann geht es los: Die Bilder werden zu Objekten aus Hartschaum, Holz und Draht. Aber sie erstarren dabei nicht, sie bleiben leicht und locker: Abgesandte aus dem poetischen Reich der “reinen Vorstellung”, in dem die Gesetze unserer Realität nicht gelten und deshalb alles möglich ist. Da türmt sich dann zum Beispiel ein dunkelgrünes Oval, eine knallrote Amöbenform, ein blauer rund-spitzer Faustkeil und eine gelbe Sichel, auf der eine kleine schwarzlächelnde Kugel sitzt, zu einer heiteren, kippligen Säule aufeinander. “Der König spielt” heißt diese Imaginations-Vertikale. Wer das wörtlich nimmt, ist dem 35jährigen aus Norsingen bei Freiburg stammenden Künstler schon in die Falle gegangen.Denn natürlich ist Reichenbachs Ge-bilde kein spielender König, genausowenig übrigens wie irgendetwas anderes, das sich konkret und real beschreiben ließe. Die Titel, die Günter Reichenbach seinen Arbeiten gibt, funktionieren nie als Festschreibungen, an die die Objekte gebunden sind, sondern mehr als atmoshärische Marker, deren spielerische, oft fast märchenhafte Dimension auf das poetisch-imaginative Klima verweist, in und aus dem seine Form-Figuren am besten gedeihen.
Bei Günter Reichenbach wird das “Atelier zum Treibhaus”, in dem die Formen anfangen zu wuchern. Sie wachsen übereinander, hängen gelb und frech an Kanten, von denen sie eigentlich abstürzen müssten, tummeln sich in fragilen, wiegenden türkisfarbenen und weinroten Balancen mit einer traumwandlerischen Sicherheit, als könnte ihnen nie etwas passieren. Aus glatten, soliden Sockeln, denen man die ursprünglichen Fundstücke nicht mehr ansieht, wachsen bunte skulpturale Träume, in denen ein statisch schwindelerregendes Turm-Gebilde und eine auf zitternden Draht gesteckte spitzige Blattform ein “merkwürdiges Zusammentreffen feiern, oder, wie in der zweiteiligen Arbeit “Maler und Modell” eine immerwährende fröhliche Uneindeutigkeit darüber herrscht, wer denn nun Maler und wer das Modell ist.
Mit sochen Fragen kommt man bei Günter Reichenbach nicht weit. Seine aus surrealen und dadaistischen Traditionen gespeiste Arbeiten erzählen nichts über die Welt wie sie ist und schon gar nicht darüber, was sie sind und was sie bedeuten. Über solche Zumutungen tänzeln sie locker hinweg. Nicht das, was ist, interessiert sie, sondern das, was sein könnte. Sie kennen keine Lösung, sondern nur das Rätsel, das sie sich selbst sind. Gerade das macht ihre Bedeutung aus. Diese Objekte zeigen etwas, das wir in unserer immer rätselloseren Welt schon fast vergessen haben: Die Schönheit des Geheimnisses.
Freiburg im Februar 1990
Stephan Berg